Verformungen meistern: Intelligentes 3D-Richten von großen Gussteilen
19.01.2023 Technologien & Prozesse Weiterverarbeitung von Gussteilen Expertenstimmen

Verformungen meistern: Intelligentes 3D-Richten von großen Gussteilen

Konventionelle Verfahren wie das manuelle Richten reichen nicht mehr aus, um den Verzug von großen Aluminiumgussteilen zu beherrschen. Automatische, intelligente Richtsysteme, die sich durch selbstlernende Algorithmen anpassen, sind daher mehr und mehr die Lösung für Gießer und ermöglichen die wirtschaftliche Produktion von großen und komplexen Gussteilen mit hohen mechanischen Eigenschaften und engen Toleranzen. Ein Gastbeitrag von den Experten Philipp Hettich und Martin Hartlieb.

Längsrichtmaschine 3D-Richtsystem für das Richten mit drei Freiheitsgraden.
Die Transportindustrie verwendet zunehmen Aluminiumgussteile. Das ermöglicht große und sehr komplexe Formen und damit die Integration verschiedener Teile und Funktionen in ein einziges Gussteil. Komplizierte und kostspielige Baugruppen werden dadurch vermieden.

Aber auch die zunehmende Elektrifizierung von Fahrzeugen verlagert den Markt für Gussteile. Die Branche bewegt sich weg von traditionellen Powertrain Gusserzeugnissen und hin zu Fahrzeugstrukturen, Fahrwerksteilen, Querträgern und Teilrahmen sowie Gehäusen und Batterieträgern.

Diese neuen Teile haben allerdings geringe Toleranzwerte und hohe mechanische Anforderungen, um die Unfallsicherheit zu gewährleisten. Das stellt Gusslieferanten vor neue Herausforderungen: Das Auswerfen derart großer Gussteile aus den Formen und Wärmebehandlungen, insbesondere schnelles Abschrecken, kann die Gussteile verformen. Diese Prozesse sind aber oft unvermeidlich, um die geforderten Eigenschaften zu erreichen. 

Gusslieferanten können Wärmebehandlungen umgehen, indem sie selbsthärtende Legierungen oder einfaches T5 ausnutzen, aber auch dann erfüllen die Gussteile die strengen Toleranzanforderungen eher selten. Herkömmliche Verfahren wie das manuelle Richten reichen nicht mehr aus, um die auftretenden Verformungen zu bewältigen, und sind bei sehr großen Gussstücken auch nicht durchführbar. 

Manuelle oder halbautomatische Richtverfahren sind in diesen Anwendungsfällen sehr zeit- und kostenaufwändig. Sie führen leicht zu weiteren Problemen und damit zu höheren Ausschussraten.Automatische, intelligente Richtsysteme, die sich durch selbstlernende Algorithmen (Künstliche Intelligenz - KI) anpassen, sind daher mehr und mehr die Lösung für Gießer. Sie ermöglichen die wirtschaftliche Herstellung großer und komplexer Gussteile mit hohen mechanischen Eigenschaften und engen Toleranzen.
 

Verformungen von Gussteilen

Aluminiumgussteilen verziehen sich typischerweise beim Gießen, beim Aufheizen, bei der Erwärmung und beim (schnellen) Abschrecken.

Während des Gießprozesses, in der Druckgussform oder Presse, durch
- Verkleben und Verlöten des Teils,
Defekte in der Formoberfläche, 
mangelhafte Anschnittsysteme,  
ungleichmäßige Erstarrung und
Eigenspannungen. 

Beim Auswerfen und Entnehmen der Teile, aufgrund von 
unterschiedlichen Ausstoßkräften, 
unzureichenden Formschrägen.

Gussteile verziehen sich auch bei nachgelagerten Prozessen wie
- Sägen,
Zerspanen und
Schweißen von Baugruppen.

Am häufigsten verziehen sich Gussteile durch die Wärmebehandlung. Besonders hoch ist das Risiko, wenn sie heiß und damit weich sind oder schnell auf hohe Temperaturen erhitzt werden müssen. Nicht weniger problematisch ist das Abschrecken. Desto schneller das Abschrecken erfolgt, desto mehr verzieht sich das Gussteil. Ein effizientes Abschrecken nach dem Auswerfen aus der Gussform oder nach der Hitzebehandlung kann sehr wichtig sein, um hohe mechanische Eigenschaften zu erreichen. 

Das Abschrecken ist allerdings auch der größte Faktor, der zum Verziehen beiträgt, insbesondere wenn die Abschreckgeschwindigkeit inhomogen ist. Wir sprechen von einer optimalen "Abschreckgeschwindigkeit", die den besten Kompromiss zwischen den gewünschten Eigenschaften und den zulässigen Verformungen des Gussteils darstellt. In vielen Fällen ist es jedoch sehr schwierig, diesen Kompromiss zu finden - und da Kunden von Zulieferern wahrscheinlich nicht bereit sind, Kompromisse bei den Eigenschaften oder Toleranzen einzugehen, muss eine Lösung gefunden werden, um die Verformungen in den Griff zu bekommen.

Um den Verzug zu kontrollieren und zu minimieren, wurde die Simulation des Prozesses und des Verhaltens des Werkstücks verbessert. Außerdem wurden technische Fortschritte bei den Wärmebehandlungsöfen erzielt und die Unterstützung während der Wärmebehandlung, die Abschrecktechniken sowie deren Temperatur und Bewegung optimiert. Wie so oft reichen auch diese Maßnahmen nicht aus, um gleichzeitig alle Anforderungen an die Eigenschaften und Toleranzen zu erfüllen. Daher werden Innovationen beim Richten von Gussteilen nun zunehmend in Gießereien und Montagebetrieben eingesetzt.

 

Grundlagen des Richtens

Unter Richten versteht man die Korrektur von Deformierungen durch plastische Verformung eines Teils, um es wieder in die vorgesehene Form zu bringen und die gewünschten Toleranzen zu erreichen. Das bedeutet, dass ein Abschnitt eines Teils über die elastische Verformung hinaus gedrückt wird. Sie federt nicht mehr zurück und liegt damit deutlich unter seiner Zugfestigkeit. Es ist wichtig, die elastische Rückfederung durch ein "Überbiegen" des Gussteils zu kompensieren. Das bedeutet, dass es stärker gebogen wird, als es notwendig wäre, um es in die richtige Form und Toleranz zu bringen. Das Gussteil kommt erst in der gewünschten Form an, wenn es "zurückgesprungen" ist. Da dieser Rücksprung und die Verformung des Teils nicht immer gleich sind, müssen diese Biege- und Richtprozesse manchmal mehrmals wiederholt werden - insbesondere bei manuellen oder halbautomatischen Richtverfahren. Dies macht es fast unmöglich, ein großes Gussteil mithilfe von Richtsystemen mit festen Parametern zu richten, wie in der Abgratpresse mit einem einzigen Pressvorgang.

 
Abbildung 1 & 2: Spannungs-Dehnungs-Diagramm mit Betriebsfenster für das Richten und Praxisbeispiel.

Je nach individueller Spezifikation und Art der Verformung können verschiedene Richttechniken angewendet werden:
Gesamtes Richten
Lokales Richten
Richten von Bezugs-/Datenpunkten.

Gesamtes Richten ist wichtig, um allgemeine Verformungen des Teils zu korrigieren, wie eine Verdrehung oder eine vollständige Durchbiegung des gesamten Teils oder eines großen Abschnitts davon. Im Gegensatz dazu bezieht sich das lokale Richten meist auf Fügeflächen, Dichtflächen oder funktionskritische Bereiche, wo ein ganz bestimmter Richthub erforderlich ist.

Das Bezugspunktrichten ist ein spezielles Verfahren, bei dem durch lokale Krafteinwirkung eine Gesamtwirkung auf das Bauteil erzielt wird. Bei dieser Technik wird der Bereich um den Bezugspunkt (niemals ein Bezugspunkt selbst!) lokal verformt mit dem Ziel, die relative Lage des Bezugspunktes zu anderen Messpunkten zu verändern. Diese Mischform ist besonders wichtig, wenn es effektiver ist, einen Bezugspunkt zu manipulieren, anstatt viele Messpunkte an einem Bezugspunkt auszurichten.

Es gibt weitere Unterscheidungen zwischen Richtverfahren
Biegen,
Pressen und
Torsionsrichten. 

In jedem Fall sollten die nicht zu richtenden Bereiche des Gussteils während des Richtvorgangs immer unterhalb der elastischen Verformungsgrenze bleiben. Die richtige Unterstützung und Handhabung des gesamten Gussteils zu jeder Zeit während des Richtprozesses sind daher von entscheidender Bedeutung, was das Richten komplexer Gussteile mit einem Bediener oder sogar einem Roboter sehr schwierig macht.

 

Richtvorgang bei Gussteilen

Bei Gussstücken - vor allem bei großen Gussstücken - tritt eine Verformung nicht nur in einem Abschnitt und in einer Richtung auf, so dass sie oft in einer Reihe von (inkrementellen) Biege-, Dreh- und Pressvorgängen in mehreren kürzeren Abschnitten gerichtet werden muss. Das Teil muss dabei gut abgestützt werden, um ein Ausbeulen zu vermeiden. Jeder dieser schrittweisen Vorgänge kann nun wiederum eine gewisse Verformung in anderen Abschnitten des Gussteils verursachen. Das macht deutlich, dass dies schnell zu einem komplexen Prozess wird, der viel Präzision und Anpassungen erfordert. Die richtige Segmentierung des Gussteils kann entscheidend sein, um das gewünschte Richten zu erreichen.

Das gesamte Spektrum möglicher Verformungen und sein Verhalten müssen bekannt sein. Nur dann kann in Verbindung mit der richtigen Segmentierung und einer idealen Kombination von Richttechniken der "perfekte Richthub" erreicht werden. Alle inkrementellen Einzelschritte müssen gleichzeitig ausgeführt werden, um mit einem Richthub in minimaler Taktzeit ein Gussteil innerhalb der Toleranzvorgaben zu erhalten. Es ist auch zu klären, welche Toleranzen durch das Richten wirklich erreicht werden müssen und welche später durch die Bearbeitung bestimmter Bereiche des Gussteils erreicht werden können.

In bestimmten Fällen kann eine spätere Verformung - beispielsweise beim Fügen - durch vorheriges "Überrichten" vorweggenommen und korrigiert werden, so dass der Fügeprozess das Teil grundsätzlich in die vorgesehene Form und Toleranz verzieht.

Ein weiterer Punkt, den es beim Richten von Gussteilen zu beachten gilt, ist die Tatsache, dass sich Gussformen im Laufe der Zeit verändern, was einen erheblichen Einfluss auf die genaue Form und die Toleranzen des Gussteils haben kann. Und selbst kleine Änderungen im Prozess können zu Schwankungen der Eigenspannungen im Gussteil oder zu Änderungen seiner Form und Toleranzen führen.

 

Automatische Richtsysteme

Intelligente, automatische Richtsysteme sind hochkomplex, erfordern einen erheblichen technischen Aufwand und Investitionen, aber sie können sich lohnen! Die Gießerei muss keine Kompromisse bei den Materialeigenschaften eingehen, kann gleichzeitig Geld sparen und muss nicht mehr jeden einzelnen Schritt optimieren, um ungewollte Verformungen zu verringern. 

Diese Systeme nutzen zum richtigen Zeitpunkt und an der richtigen Stelle es Teils synchronisierte Kräfte, um lokale und generell Ergebnisse zu gewährleisten. Das System wirkt einer unerwünschten Verformung in einem Bereich des Gussteils sofort entgegen, indem es eine Gegenkraft an der richtigen Stelle einsetzt - es arbeitet mit dem Teil und nicht dagegen. Diese Systeme sind in der Lage, den Richtprozess selbst zu erlernen und zu optimieren und dabei Ergebnisse zu erzielen, die sonst nicht möglich wären.

Der grundsätzliche Ablauf ist wie beim manuellen Richten. Das Teil wird vermessen, dann gerichtet und anschließend erneut vermessen, um das erzielte Ergebnis zu ermitteln. Dies wird bei Bedarf wiederholt, bis das Teil vollständig innerhalb der Toleranz liegt. Durch die Auswertung vergangener Richtergebnisse ist die Maschine in der Lage, die benötigte Zeit für das Richten zu minimieren.

Für eine präzise Vermessung des Teils ist die richtige Unterstützung an definierten Stellen entscheidend. Instinktiv würde man das Gussteil an den Bezugspunkten unterstützen, doch dies könnte die relative Lage der Nullpunkte und anderen Messpunkte aufgrund der Schwerkraft beeinflussen, was dann alle anderen Messungen im Teil verfälschen und zu einer fehlerhaften Grundannahme für das Richten des Gussteils führen würde. Außerdem setzt es diese elementaren Punkte dem Risiko einer mechanischen Beschädigung aus.

Der Schlüssel liegt also darin, einen gesicherten Zustand herzustellen und dann die (geschützten) Bezugspunkte durch Messung zu bestimmen. In Sekundenbruchteilen werden auf der Grundlage dieser Bestimmung der Teileposition im Raum die anderen Messwerte der Teileoberfläche mathematisch transformiert, um ein vollständiges virtuelles Bild des Teils und seiner Verformungen zu erhalten. 

Die Messung selbst erfolgt in der Regel taktil, um die Schnelligkeit und Genauigkeit zu gewährleisten. In seltenen Fällen werden Lasersensoren, beispielsweise für die Oberflächenebenheit. Auf der Grundlage der eingegebenen Messung und des daraus resultierenden virtuellen Modells vergleicht die Maschine dieses mit dem Teil aus dem CAD-Modell und entscheidet, welche Richtelemente (Einheiten) in welchem Maße verwendet werden.

Die Anzahl und Positionierung dieser Richtelemente ist für ein erfolgreiches Richten entscheidend. Um die Maschine in die Lage zu versetzen, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen, müssen die Erfahrungen aus den erhaltenen und vermessenen Gussteilen (einschließlich aller möglichen Verformungen) und die Erfahrungen aus dem Richten dieser Gussteile zusammengeführt, die oben erwähnte Segmentierung festgelegt und die Werkzeugeinrichtung für die jeweiligen Richttechniken (lokal, insgesamt, Nullpunktverschiebung) berücksichtigt werden.

Ein 3D-Richtsystem hat dafür drei Freiheitsgrade: Y, Z und Verdrehung um die X-Achse.

 
Längsträger mit spezifischen Richtstellen und Werkzeugen für die jeweiligen Techniken (grün = lokales Richten, blau = Gesamtrichten) und das jeweilige Richtsystem. Abbildung 3 & 4: Längsträger mit spezifischen Richtpunkten und Werkzeugen für die jeweiligen Techniken (grün = lokales Richten, blau = Gesamtrichten) und dem jeweiligen Richtsystem

Das Richten in jedem Element selbst wird über die Richtung und nicht über die Kraft gesteuert, da dies - in Kombination mit der wiederholten (Online-)Messung der Wirkung - die Bestimmung der plastischen und elastischen Komponenten der angewandten Verformung ermöglicht. Nach jedem Richtzyklus (Messen - Richten - Messen) erstellt die Software ein Protokoll für alle Richtpunkte und -parameter: Kombination von Richteinheiten, Richtweg, Anzahl und Wirkung jedes Hubs und viele mehr. Dies ermöglicht dem Gießer zusätzliche Rückschlüsse auf den Fertigungsprozess hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Toleranzen des Teils, aber auch auf Veränderungen der Materialeigenschaften wie der Eigenspannung.

Abbildung 4 zeigt das Richtsystem anhand des Beispiels eines Längsträgergussteils. Je nach Komplexität und Eingangsqualität eines bestimmten Gussteils kann der Richtzyklus zwischen 45 Sekunden (einfacher Schockturm) und 150 Sekunden (hochkomplexes Batteriegehäuse oder Mega/Giga-Casting) liegen.

Das System kann in Produktionslinien integriert und die Teile mithilfe von Robotern automatisch be- und entladen werden, so dass ein Bediener nur zum Einrichten von neuen Gussteilen erforderlich ist. Im Vergleich zu manuellen oder halbautomatischen Systemen können sie den Platzbedarf erheblich reduzieren und verursachen nur sehr geringe Ausfallzeiten. Sie zeichnen sich durch extreme Präzision, Qualität und Wiederholbarkeit aus. Ohne diese Systeme könnten viele dieser komplexen Gussteile wie Stoßdämpferbrücken, Längsträger und Batterieträger nicht wettbewerbsfähig mit Aluminiumgussverfahren hergestellt werden.

 

Fazit

Strukturelle Aluminiumgussteile haben in der Transportindustrie in den letzten zwei Jahrzehnten ein erhebliches Wachstum erfahren, das sich mit der Elektrifizierung der Fahrzeuge noch beschleunigt. Neue Teile wie komplette vordere oder hintere Karosseriestrukturen oder Batterieträger können idealerweise mit großen und komplexen Gussteilen hergestellt werden. Um sowohl die Eigenschaften als auch die Maß- und Toleranzvorgaben zu erfüllen, sind bei Gussteilen zunehmend umfangreiche Richtvorgänge erforderlich. 

Da die Verformungen von Teil zu Teil sehr unterschiedlich sein können und manuelles oder halbautomatisches Richten sehr schwierig, zeitaufwändig und kostspielig sein kann, wurden neue automatische Richtsysteme entwickelt, die in der Gießereiindustrie immer häufiger eingesetzt werden. Diese intelligenten Systeme passen sich an unterschiedliche Verformungen an und können den Bediener sogar warnen, wenn sich etwas in der Form oder im Prozess ändert, das korrigiert werden muss. Sie reduzieren den Platz- und Personalbedarf und bieten eine hohe technische Verfügbarkeit bei geringer Taktzeit. Damit sind die Gießereien in der Lage, sowohl die Anforderungen an die Eigenschaften als auch die sehr engen Toleranzanforderungen zu erfüllen, was es ihnen ermöglicht, diese neuen Teile wettbewerbsfähig zu produzieren und in diesen schnell wachsenden Markt mit Aluminiumgussteilen mit hohem Mehrwert einzusteigen.

 

Referenzen

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